Die Familie der Stiftung ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem damaligen Ostpreußen nach Westen geflüchtet. Noch kurz vor Kriegsende, am 26.12.1943, heirateten die Eltern, Gertrud Bylda und Max Sczech, in der Kirche zu Lyck.
Der Vater, Max Sczech, hatte nach schwerer Krankheit aus dem Russland Feldzug nur einen kurzen Urlaub und musste nach der Hochzeit sofort wieder an die Front. Er wurde nach Frankreich geschickt, wo er 1944 in englische Kriegsgefangenschaft kam.
Ostpreußens Untergang
Von Ostpreußen gibt es vor allem zwei Bilder, die das kollektive Gedächtnis beherrschen. Das eine zeigt uns eine verklärte Landschaft, zeigt uns kristallne Seen, dunkle Wälder, weiße Dünen, zeigt herrschaftliche Güter, Bernstein und Elche. Das andere schildert den Schrecken und Wahnsinn des Krieges, Ostpreußen 45: Flüchtlingstrecks in Eis und Schnee, Mord und Vernichtung. Gerade jetzt wird dieses Bild wieder neu belebt, wenn ein Fernsehfilm des ZDF den Untergang des Dampfers Wilhelm Gustloff erzählt, den ein sowjetisches U-Boot versenkte; mehr als 9000 Flüchtlinge waren damals, im Januar 1945, in den eisigen Fluten der Ostsee umgekommen.
Dazwischen, zwischen dem Kultur- und Naturidyll, wie es auch heute noch in Reisereportagen und Fernsehdokumentationen gern reproduziert wird, und den Erzählungen vom grausigen Ende, scheint es nichts zu geben – nichts gegeben zu haben: keinen politischen Alltag, keinen historischen Prozess. Dabei erweist sich gerade hier, in Deutschlands östlichsten Landen, wie eng politische Radikalisierung und maßlose Zerstörung miteinander zusammenhängen.
Diese Geschichte begann mit dem Ersten Weltkrieg. Ostpreußen war die einzige deutsche Provinz, die direkt unter den Kämpfen zu leiden gehabt hatte und die verheerend zerstört worden war. Kaum schwiegen die Waffen, als neue Konflikte begannen. Überall an den Reichsgrenzen tobte der Streit um die nationale und ethnische Zugehörigkeit umstrittener Territorien. Ostpreußen fand sich, durch den an Polen gefallenen »Korridor« vom Reich getrennt, als Insel wieder. Darüber hinaus stellte der wiedererstandene Nachbar weiter gehende Ansprüche auf die ganze Provinz. Die in Versailles vereinbarte Volksabstimmung im südlichen Ostpreußen am 11. Juli 1920 ging jedoch zugunsten Deutschlands aus; überwältigende 97,9 Prozent stimmten für den Verbleib beim Reich.
Darauf folgte ein neuer Schock, als am 10. Januar 1923 als Freischärler getarnte litauische Einheiten im Memelgebiet einmarschierten und es der 1918 gegründeten Republik Litauen einverleibten. Dieser neue Status quo verunsicherte die Ostpreußen zutiefst; Demagogen nutzten die Stunde und begannen, gegen die junge Weimarer Republik zu hetzen.
Der Fall des Kaiserreichs hatte hier ohnehin kaum etwas bewirkt, die alte konservative Elite saß längst wieder in Amt und Würden. Die Tatsache, dass die Kapp-Putschisten im März 1920 nirgends so viel Erfolg gehabt hatten wie in Ostpreußen, veranlasste die preußische Regierung dazu, die Versäumnisse der Revolution nachzuholen und die längst überfällige Demokratisierung der Verwaltung einzuleiten. Mit höchst mäßigem Erfolg: Reichskommissar Albert Borowski (SPD), der von der Regierung beauftragt worden war, die Verstrickungen der örtlichen Behörden in den Putsch zu untersuchen, gab nach einigen Monaten entnervt auf.
Das Grundproblem Ostpreußens blieb die agrarische Monostruktur. Um ihre Höfe am Leben zu erhalten, verschuldeten sich viele Landwirte. Die Katastrophe schien unabwendbar. Die tonangebenden konservativen Gutsbesitzer standen an der Spitze der einflussreichen landwirtschaftlichen Lobbyistenverbände und bevorzugten ihre Klientel. Insgesamt verfügten 1925 1,9 Prozent aller Betriebe über die Hälfte der gesamten Nutzfläche. Die Fehlplanungen der »Osthilfe« verschärften den Konflikt und untergruben die Autorität der demokratischen Regierung. Ostpreußens Bauern kehrten den leeren Versprechungen der Parteien den Rücken; als ihren vermeintlichen Retter erkoren sie einen Mann aus Braunau. Bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 stimmte die Provinz mit 47,1 Prozent für die NSDAP (das Reich insgesamt mit 37,4 Prozent) und am 6. November 1932 mit 39,7 Prozent (Reich 33,1 Prozent).
Der Nationalsozialismus in Ostpreußen ist vor allem mit dem Namen eines Mannes verbunden: Erich Koch, geboren 1896 in Elberfeld. Von Beruf Eisenbahnschaffner, widmete sich der führergläubige Protestant seit 1928 dem Aufbau der ostpreußischen NSDAP und prägte sie bis zum Ende. Als Gauleiter, Oberpräsident und zeitweise auch Präses der Provinzialsynode propagierte er anfänglich eine »Partei des preußischen Sozialismus«. Immer wieder vertrat er lautstark und wirkungsvoll die Interessen der Region.
Bereits im Juli 1933 segnete das Reichskabinett den »Ostpreußenplan« ab. Als dessen Folge vollzog sich ein beispielloser Aufschwung. Die Bauern profitierten durch eine Absatzgarantie mit festen Abnahmepreisen nachhaltig von der NS-Agrarpolitik, die ihnen einen größeren Kalkulationsspielraum gewährte. Günstige Kredite und Entschuldungsprogramme verbesserten ihre Liquidität, die wiederum Neuinvestitionen ermöglichte. Zudem proklamierte »die Bewegung« gern die Auflösung alter Klassen- und Kulturgegensätze zugunsten der »deutschen Volksgemeinschaft«. Gleichzeitig vermittelte die Propaganda der Stärke ein Gefühl der Sicherheit und Überlegenheit. Jetzt wurde mit dem Säbel gerasselt. Sichtbares Zeichen war die am 22. März 1939 erzwungene Rückgabe des Memelgebiets durch Litauen.
Doch auch nach innen sollte der ideologische Anspruch rasch sichtbar gemacht werden. Als das kleine Dorf Sutzken am 27. Oktober 1933 seinen alten Namen zugunsten von »Hitlershöhe« verlor, war das der Anfang vom Ende vieler jahrhundertealter ostpreußischer Ortsnamen. Gleichmacherisch walzte die neue Zeit alles nieder, was slawisch oder litauisch schien. In rasendem Tempo entledigten sich die neuen Herren der unliebsamen multiethnischen Geschichte des Landes und vernichteten so Zeugnisse einer einmaligen Grenzkultur zwischen deutschem, litauischem und polnischem Sprachraum.
Schon in den ersten Wochen der NS-Herrschaft regierten Mord und Verbrechen. Die NSDAP-Kreisleitung Insterburg rief am 1. April 1933 mit einer Denunziationsliste alle Bewohner zum Boykott jüdischer Ärzte, Rechtsanwälte und Kaufleute auf: »All-Juda hat dem deutschen Volke den Krieg erklärt!« Wie überall im Reich wurden Geschäfte jüdischer Bürger »arisiert«. Im November 1938 brannten auch Ostpreußens Synagogen. Die Königsberger Neue Synagoge ging in Flammen auf, und in den Morgenstunden des 10. November wurden 450 jüdische Königsberger festgenommen. Im beschaulichen Masurenstädtchen Ortelsburg brannte das repräsentative Gotteshaus vollkommen aus. Ortelsburgs Bürgermeister Bruno Armgardt stellte der verbliebenen Gemeinde den Abriss der Ruine mit 1055 Mark in Rechnung. Anfang Januar 1939 zwang man Königsbergs Juden zunehmend in sogenannte Judenhäuser. Trotz des alltäglichen Terrors harrte eine ansehnliche Zahl jüdischer Gemeindemitglieder weiter aus. Einer von ihnen war Professor Hugo Falkenheim, der von 1928 bis zu seiner späten Emigration 1941 der immer kleiner werdenden Gemeinde vorstand.
Am 31. August 1941 lebten noch 1139 jüdische Menschen im Regierungsbezirk Königsberg. Für ihre Deportation zeichneten regionale Staatspolizeistellen verantwortlich; in penibler Gründlichkeit hielten sie die technische Abwicklung der Deportation in den Tod fest. Der Haupttransport verließ Königsberg am 24. Juni 1942 um 22.34 Uhr über Korschen nach Prostken, dort erfolgte die Weiterfahrt um 6.41 Uhr nach Białystok mit dem vorläufigen Zielbahnhof Zelwa bei Wolkowysk. Dazu kam ein Zug aus dem südlichen Ostpreußen, der in Korschen an den Königsberger Zug angehängt worden war. Der gesamte Transport erreichte am 26. Juni den Güterbahnhof von Minsk in Weißrussland, wo die Menschen ausgeladen, auf Lkw abtransportiert und anschließend in Maly Trostinez ermordet wurden.
Der preußische Geist der Toleranz hatte längst verloren, war spätestens 1933 untergegangen. Widerstand kam nur von wenigen mutigen Demokraten, Kommunisten, Juden und überzeugten Christen. Etliche von ihnen bezahlten ihr Engagement mit dem Leben. So wurde der engagierte Königsber-ger Sozialdemokrat Gerhard Birnbaum 1942 von der Gestapo ermordet. Im selben Jahr starb in Auschwitz die Königsberger Stadträtin Martha Harpf. Und noch am 1. März 1945 wurde Carl Friedrich Goerdelers Bruder, Königsbergs Stadtkämmerer Fritz Goerdeler, hingerichtet.
Wie andernorts im Reich (und in den von der Wehrmacht besetzten Ländern) gab es auch in Ostpreußen Arbeitserziehungs-, Durchgangs- und Konzentrationslager. Im Arbeitserziehungslager Hohenbruch (Lauknen) im Großen Moosbruch wurden vorwiegend polnische Häftlinge bei der Moorentwässerung eingesetzt. Im Februar 1940 entstand in Soldau ein Durchgangs-, Haft- und Vernichtungslager in einer ehemaligen Kaserne. Zwischen dem 21. Mai und dem 8. Juni 1940 wurden dort 1558 ostpreußische Behinderte zusammen mit 300 aus Polen deportierten Geisteskranken in einer mobilen Gaskammer ermordet. Insgesamt durchliefen 200.000 Menschen das Soldauer Lager, von denen mindestens 10.000 ermordet wurden. Als in Riga, Kaunas und andernorts im Baltikum die Ghettos geräumt und viele der Bewohner in das Danziger KZ Stutthof verschleppt wurden, richtete man im Sommer 1944 sechs Außenlager in Ostpreußen ein: Seerappen, Jesau, Königsberg, Schippenbeil, Gerdauen und Heiligenbeil.
Vielfach wird in der Erinnerungsliteratur die trügerische Ruhe während der ersten Kriegsjahre beschrieben. In der Tat kamen ganze Berliner Schulen, kamen ausgebombte Familien aus vielen Großstädten in das vermeintlich sichere Ostpreußen. Doch spätestens 1944 erreichte der Luftkrieg auch diesen Winkel des Reiches. Bei einem Angriff in der Nacht vom 29. zum 30. August vernichteten 650 britische Bomber durch den Abwurf neuer Brandstrahlbomben und den dadurch ausgelösten Feuersturm fast das ganze historische Königsberg; die ehrwürdige Stadt am Pregel hatte 4200 Tote zu beklagen, insgesamt verloren 200.000 Menschen ihr Obdach.
Hans Graf von Lehndorff, ein Mitglied der Bekennenden Kirche, hielt diesen Sommer fest: »Die Vorboten der Katastrophe machten sich bereits in den letzten Junitagen 1944 bemerkbar – leichte, kaum ins Bewußtsein dringende Stöße, die das sonnendurchglühte Land wie von fernem Erdbeben erzittern ließen. Und dann waren die Straßen auf einmal überfüllt mit Flüchtlingen aus Litauen, und herrenloses Vieh streifte quer durch die erntereifen Felder, dem gleichen unwiderstehlichen Drang nach Westen folgend. Noch war es schwer zu begreifen, was da geschah, und niemand durfte es wagen, seinen geheimen Befürchtungen offen Ausdruck zu geben. Aber als der Sommer ging und die Störche zum Abflug rüsteten, ließ sich das bessere Wissen von dem, was bevorstand, nicht länger verborgen halten. Überall in den Dörfern sah man Menschen stehen und zum Himmel starren, wo die großen vertrauten Vögel ihre Kreise zogen, so als sollte es diesmal der letzte Abschied sein. Und jeder mochte bei ihrem Anblick etwa das gleiche empfinden: ›Ja, ihr fliegt nun fort! Und wir? Was soll aus uns und unserem Land werden?‹«
Unüberhörbar vernahm man jetzt das Donnern der Front. Nach Beginn der sowjetischen Großoffensive am 22. Juni 1944 stand die Rote Armee am nördlichen Memelufer. Vom 16. Oktober an gelangten ihre Truppen zwischen Stallupönen und der Rominter Heide erstmals im Raum Nemmersdorf auf deutschen Boden. Nach der Rückeroberung fanden deutsche Soldaten Spuren eines furchtbaren Massakers vor. Mit dem Ruf »Rache für Nemmersdorf« suchte die NS-Propaganda den Durchhaltewillen der Ostpreußen zu stärken, erreichte jedoch das Gegenteil. Panik machte sich breit; erstmals spürte die deutsche Zivilbevölkerung die Rache der Sieger.
Von Mitte November 1944 an war plötzlich alles still. Sowjetische Einheiten lagerten in der Rominter Heide. Die NS-Propaganda mochte sich brüsten, man hätte die Rote Armee zurückgeschlagen, aber die Truppen saßen nur die nasskalte Jahreszeit aus, da ihr Vorrücken im aufgeweichten Boden leicht ins Stocken geraten wäre. Das Weihnachtsfest verlief in angespannter Stille.
Doch dann, bei klirrendem Frost, brach der Sturm los. Am 13. Januar 1945 rückte die Rote Armee vor, zunächst die 3. Weißrussische Front im Norden dann die 2. Weißrussische Front von Süden her. Nach stundenlangem Trommelfeuer drang sie aus den Brückenköpfen an Weichsel und Narew heraus und erzwang in wenigen Tagen weiträumige Durchbrüche. Bereits am 26. Januar erreichten Stalins Truppen bei Tolkemit das Frische Haff – Ostpreußen war eingekesselt, 1,6Millionen sowjetische Soldaten befanden sich im Einsatz. Drei Tage später schloss sich der Belagerungsring um Königsberg. Die Heeresgruppe Mitte wurde in drei Kessel aufgespalten: den Heiligenbeiler Kessel, die Festung Königsberg und das Samland. Seitens der Gauleitung, aber auch durch die fanatische Haltung vieler NSDAP-Kreisleiter wurde eine rechtzeitige Evakuierung verhindert. Eine geordnete Flucht war so unmöglich geworden.
»Und dann begann der große Auszug aus dem gelobten Land der Heimat, nicht wie zu Abrahams Zeiten mit der Verheißung ›in ein Land, das ich dir zeigen werde‹, sondern ohne Ziel und ohne Führung hinaus in die Nacht« – so schrieb Marion Gräfin Dönhoff über die Flucht im Januar 1945. Es herrschten eisige Temperaturen. Die Menschen flohen in Richtung Meer und versuchten zunächst noch, über das zugefrorene Frische Haff auf die Frische Nehrung zu gelangen, die einzig verbliebene Landverbindung nach Westen, in den Danziger Raum.
Die Trecks wurden von deutschen und sowjetischen Militärkolonnen in die Straßengräben gedrängt, von Artillerie und Tieffliegern beschossen, überrollt und niedergemacht. Verzweifelt irrten die Menschen in Eis- und Schneestürmen umher, verloren die Pferde, setzten die Flucht zu Fuß fort. In einer Rettungsaktion gelang es der Kriegsmarine, von Pillau aus viele Flüchtlinge nach Danzig, Gotenhafen (Gdingen) und Hela zu bringen. Von hier aus sollten sie weiter über die Ostsee nach Westen transportiert werden. Doch die dazu eingesetzten ehemaligen Kreuzfahrtschiffe – wie die Goya oder eben die Wilhelm Gustloff – waren für sowjetische UBoote eine leichte Beute. Es kam zu den größten Schiffskatastrophen der Seefahrtsgeschichte, Zehntausende ertranken. Am 30. März schließlich fiel Danzig, damit war die Verbindung nach Westen endgültig abgeschnitten; für Ostpreußen gab es keine Rettung mehr.
Als die sowjetische Offensive begann, löste die SS die Stutthofer Außenlager in Ostpreußen auf. Von Königsberg aus trieb man die etwa 7000 überlebenden jüdischen KZ-Häftlinge aus der ganzen Provinz am 26. Januar in Richtung Samland. Auf dem Todesmarsch an die Bernsteinküste wurden mehr als 2000 Menschen, die vor Erschöpfung zusammenbrachen, von den Wachmannschaften erschossen. In Palmnicken angekommen, jagte man die Überlebenden am 30. Januar in die eisige Ostsee und ermordete sie mit Maschinengewehren. Nur 15 Menschen überlebten das Massaker. Es war just jener 30. Januar 1945, an dem die Wilhelm Gustloff vor der Küste Pommerns unterging.
Als das Ende des Großdeutschen Reiches abzusehen war, verließen sich die Behörden nicht mehr auf die Loyalität zur Partei, sondern beschworen die »soldatische Grundhaltung« der »abgehärteten Grenzbevölkerung«. Einmal mehr wurde der Tannenberg-Mythos von 1914 bemüht. Doch im Januar 1945 hofften die Ostpreußen vergeblich auf einen neuen Hindenburg. In einem wahnwitzigen Entschluss erklärte Hitler Königsberg zur Festung. Allen war jedoch die sowjetische Überlegenheit bekannt: Ein Drittel der russischen Luftflotte befand sich im Einsatz gegen die Stadt, ohne dass ein einziges deutsches Flugzeug zu sehen war. Dennoch kapitulierte Königsberg erst am 9. April 1945.
Kurz zuvor hatte sich Erich Koch abgesetzt. Vier Jahre später, 1949, wurde in der Nähe von Hamburg ein gewisser Rolf Berger, Major der Luftwaffe und ehemaliger Gutsbesitzer, verhaftet. Man hatte den Gauleiter wiedererkannt. Die Briten lieferten ihn an Polen aus. 1958 wurde er vom Bezirksgericht Warschau des Mordes und der Beihilfe zum Mord in 400.000 Fällen sowie weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Doch die Hinrichtung blieb wegen einer Erkrankung des Delinquenten ausgesetzt. Erich Koch, Gauleiter, Oberpräsident und Massenmörder, starb am 12. November 1986, 90 Jahre alt, in einem Gefängnis in Wartenburg, auf ostpreußischem Boden.
Einige Orte waren von Hitlers Truppen bis zum Ende verbissen gehalten worden. »In Ostpreußen«, meldet der letzte Wehrmachtsbericht vom 9. Mai 1945, »haben deutsche Divisionen noch gestern die Weichselmündung und den Westteil der Frischen Nehrung tapfer verteidigt.« Unter allen Provinzen des Reiches erlitt Ostpreußen die höchsten Verluste an Menschenleben. Von 1933 bis in die späten vierziger Jahre gingen von seinen 2,5 Millionen Einwohnern 511.000, davon 311.000 Zivilisten, durch Holocaust und NS-Terror, durch Krieg, Flucht, Verschleppung, Lagerinternierung, Hunger und Kälte zugrunde. 511.000 Menschen – und 700 Jahre deutscher Geschichte.
DIE ZEIT 3.3.2008
Der Autor ANDREAS KOSSERT ist Historiker und arbeitet am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Mehr zum Thema in seinen Büchern »Ostpreußen« und »Masuren«, die beide auch als Taschenbuch vorliegen (Pantheon Verlag, 448 und 432 S., je 12,90 €)