Am 20. Juli 2015 hauchte Martin seine letzten Atemzüge und starb mit einem Lächeln im Gesicht. Ich bin unendlich traurig, erschüttert aber auch dankbar. Dankbar, weil er trotz seinem unsagbar schweren und langem Leiden mir zurückgebliebenem Zuversicht, Kraft und zum Abschied diese wunderbare Leichtigkeit mit auf den Weg gegeben hat. „Angst vor dem Tod habe ich nicht“ hat er oft gesagt – an seinem Totenbett ergriff mich dann dieser Frieden zu seinem letzten Abschied, der alle seine Qualen beendete.
Martin hatte noch unzähliges vor. Unser traditionelles Dezember-Gänseessen im Hunsrück hatte er schon geplant, mit Friedbert wollte er noch unbedingt in die Alpen fahren und mit Jola so intensiv leben. Und er hat gelitten an dieser Welt. An Not, Elend, Umweltzerstörung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Er wollte helfen, er wollte seinen Glauben weitergeben, der ihm Kraft und Zuversicht gegeben und durch viele Schicksalsschläge geholfen hat. Martin hat sich gekümmert. Er war die treue, große und warme Seele, die regelmäßig die kranken und einsamen besuchte, Friedchen, Tante Pida, Walter, Hedwig, Spenden für Kinder in Indien, Campact, kirchliche Missionsarbeit, Greenpeace, ……
O je, diese Welt. Wie oft hat er mich in Rage versetzt, wenn er sich bereitwillig auf diverse Heilsversprechen einließ. Gutmütig hat er bis zur Selbstzerstörung Gleichstrombehandlungen, Lecherantennendiagnosen, Blasenkatheder, Hyperthermien und Insulin-potenzierten Therapien erlitten oder
voller Zuversicht Misteltherapie, B17, Horvi, hochdosiertem Vitamin C, andere Vitamine, Kurkuma, Kräuterölen, Enzymen, Pfirsichkernen, Nosoden, Zäpfchen, Brokkoli, Himbeeren, Ölen und anderer Mixturen, Kapseln Pillen, Tropfen, Einläufen und diversen Infusionen sein Vertrauen geschenkt.
Aber Martin erlebte die andere Seite, die „moderne Onkologie“, als seelenlose, technische Medizin. Dabei ging der Blick auf seine Bedürfnisse als kranker Mensch verloren. Die
nebenwirkungsreichen Therapien mit brutalen, bleibenden Auswirkungen musste er erdulden und hatte nur die „Alternativmedizin“ in der einfühlsamen Auseinandersetzung mit seiner von Anfang an lebensbedrohlichen Erkrankung.
Wie deprimiert war ich, wenn ich miterleben musste, wie kalt und unfähig zu jeder gescheiten Kommunikation und Beratung entscheidende Krankenhausbesuche abliefen. Wie konnte ich da noch die Kunst der Wissenschaft verteidigen? Gefangen in einer Bürokratischen Rationalisierungsmaschine. Unvergessen ist mir der Besuch in der Uniklinik in Mainz, in der eine grimmig gestresste Krankenschwester regelrecht die Arztvisite abblockte, dem schwerkranken, frischoperierten Bruder Rinderbraten statt Schonkost brachte und die notwendigen Medikamente in Eigenregie verweigerte. Pech gehabt. Der einfühlsame und hochqualifizierte Pfleger der vorhergehenden Tage hatte sich in seinen wohlverdienten Urlaub verabschiedet. Der Chefarzt hatte keine Zeit und Martin wollte nur noch so schnell wie möglich raus.
In einem Krankenhausbesuch zwei Jahre vorher hatte ich es am eigenen Leibe erfahren. Ohne Selbsthilfe? Geht gar nicht! Da wurden mir einfach ohne Anleitung und Aufklärung diverse Tabletten hingelegt. Einzige Hilfe war eine funktionierende Internetverbindung.
Rückblende. Dicker Zigarettenrauch wabert durch die Kneipe im Hunsrück und nach etlichen Bieren und Schnäpsen ist die Stimmung ausgelassen. Wir sind jung. Natürlich habe ich schon davon gehört, irgendwie soll Rauchen auch mit Krebs zusammenhängen. Aber bei mir doch nicht. Mein Opa hatte Krebs und meine Mutter hatte Krebs. Genetisches Risiko? Umweltfaktoren? Lebensstil? Alles kein Thema. „Martin, gib noch mal ne Marlboro rüber.“ Obwohl ich eigentlich lieber gedreht habe, oder war es meine rebellische Gauloises, Weltenbummler Camel oder alternative Lucky Strike Zeit? Vaters HB habe ich zwar gerne gerochen, aber nur im Notfall angerührt. Roth Händle war auch „in“ und für mein abfahren auf das Peter Stuyvesant Image habe ich mich dann irgendwann geschämt.
Auf einmal mache ich mir Sorgen. Martin macht alles intensiver. Mehr Zigaretten, mehr Alkohol, mehr Stimmung, mehr Feier. Ob das gut geht? Aber Creedence Clearwater Revival und Carlos Santana wischen alle meine Bedenken hinweg. Rainer winkt mir zu, während Stöps am Tresen langsam einpennt. Nach einem verträumten „Let it be“ hämmert Miriam Makebas Pata Pata aus den Musikboxen und wir sind ausgelassen, glücklich, Zeit hat keine Bedeutung, Zukunft ist völlig unwichtig.
Juni 2015. Ich habe gerade ein Hörbuch beendet und Martin eine Kopie geschickt. Der Onkologe Bleif plante ein Buch über den Krebs. Dann erkrankte seine Frau an Brustkrebs, nach wenigen Jahren starb sie. Bleif schrieb ein Buch, das er so nie schreiben wollte. Kaum eine andere Krankheit ist so mit Vorurteilen und Tabus überfrachtet wie der Krebs. In den Augen vieler Menschen ist Krebs ein schicksalhaftes Ereignis, das sich nicht beeinflussen lässt. Gesunde blenden den Gedanken daran üblicherweise aus. Sie schätzen das Risiko, Opfer eines Unfalls oder Verbrechens zu werden, um ein Vielfaches höher ein als die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben. Dabei ist Krebs die zweithäufigste Todesursache in den Industrienationen. Fast jeder dritte Mitteleuropäer erkrankt daran – in Deutschland waren es im vergangenen Jahr über 500.000 Menschen – und mehr als vier von zehn Krebskranken sterben. Von einer „verschwiegenen Katastrophe“ spricht Bleif und hat sich vorgenommen, den Nebel aus Unwissenheit und Unsicherheit, der einen unverstellten Blick auf diese Krankheit verhindert, zu lichten.
Hätten Martin und ich dieses Buch nur dreißig Jahre früher besprochen, simuliere ich jetzt um sechs Uhr morgens, nach dem Tag, an dem Martin zum Abschied aus seinem Leben lächelte, ich denke er wollt mir sagen, „siehst du, der Kampf gegen den Krebs ist vorbei, jetzt kann ich genau dorthin in Frieden weitergehen, wo schon immer mein letztes Ziel war……..“
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